Erkenntnisse aus dem Obamacare Website Desaster

„Es gibt nichts zu beschönigen, niemand ist frustrierter als ich“, brachte US-Präsident Obama seine Stimmung auf den Punkt. Schuld an der Verstimmung waren jedoch weder der US-Haushaltsstreit oder die großen Krisenherde in Syrien oder dem Iran. Stattdessen ist es eine Website, die den mächtigsten Mann der Welt in diesen Tagen arg in Bedrängnis bringt: www.healthcare.gov

Rückblende auf Obamacare

Für seine zweiten Amtszeit als US-Präsident hatte sich Barack Obama vorgenommen, den US-Amerikanern endlich ein Gesundheitssystem zu geben, was diesen Namen verdient. Obwohl das Projekt innenpolitisch höchstumstritten war (und ist), setzte sich der Präsident durch, das Projekt „Obamacare“ erhielt Grünes Licht.

Um eine Krankenversicherung zu bekommen, muss man sie beantragen können. Dafür musste eine Website her, groß und schön! Das Ziel war schnell beschrieben: gesucht wurde eine Website mit dem Look’n’Feel von Amazon und der Einfachheit des iTunes-Stores. Dort sollten allerdings keine Bücher oder Lieder verkauft werden, sondern Versicherungen. Und damit es nicht zu einfach ist, sollte die Website möglichst viel automatisieren. D.h., die Login-Daten sollten von Meldeämtern übernommen werden, Versicherungsgesellschaften sollten direkt Policen verkaufen, Preisvergleiche mussten möglich sein u.v.m.

Jedes Detail für sich genommen wäre sicherlich lösbar gewesen. Sämtliche Funktionen gleichzeitig auszurollen, musste in einem Disaster enden – und so kam es dann auch.

Bauchlandung

Als healthcare.gov am 1. Oktober online ging, ging sie auch gleich wieder aus. Die Server kämpften mit massiver Überlastung, rund 19 Millionen Menschen zeigten Interesse, der Ansturm war einfach zu groß. Nach dem Serverausfall folgte der Regierungs-Shutdown aufgrund des Haushaltsstreits, während dessen die Probleme mit der Website in den Hintergrund gerieten. Doch bereits ein paar Tage später war das Problem wieder in den Medien und es wurde klar: die Website funktioniert schlichtweg nicht.

Sowohl die Gesundheitsministerin als auch der Präsident höchstselbst mussten die technischen Fehler eingestehen und sich allerhand kritische Fragen gefallen lassen. Immerhin hatte die Kern-Website gut drei Jahre Vorlaufzeit bekommen und über 172 Millionen US-Dollar Steuergeld gekostet, bis zu 400 Millionen Dollar wurden insgesamt bisher für das Projekt verwandt.

Erst kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu

Als sei das Eingeständnis der technischen Fehler nicht bereits peinlich genug, kam es im Laufe der Wochen nach dem Start noch schlimmer. Es stellte sich heraus, dass bei der Planung der Krankenversicherung eine Detailregelung „übersehen“ wurde. Dieses Detail führt dazu, dass etwa 5% der jetzt Krankenversicherten ihre Versicherung verlieren bzw. durch eine teurere ersetzen müssen. „Pech gehabt!“ mag man diesen Leuten zurufen, doch das Pech ist mit Barrack Obama. Der hatte nämlich bei der Einführung versprochen, dass genau dieses Detail beachtet werden würde. Die politischen Planer haben das jedoch nicht getan – und die Website-Entwickler haben es konsequenterweise auch nicht eingebaut. Wer jetzt denkt, „na gut, dann baut das doch ein“, der unterschätzt jedoch die Komplexität des Projekts. Gut 500 Millionen Codezeilen umfasst die Kern-Website. Zum Vergleich: die Steuerungssoftware einer größeren Bank kommt mit 100 Millionen Codezeilen aus.

Lessons learned

Auch wenn in Deutschland die wenigsten Websites zig Millionen Euro kosten, lässt sich aus dem verpatzten Web-Großprojekt der Amerikaner durchaus etwas lernen.

In einer Pressekonferenz wurde Präsident Obama gefragt, warum er es zugelassen hat, dass diese schlechte Website online gehen konnte. Er antwortete darauf, dass er zwar von kleineren Problemen gewusst habe, nicht aber über das gesamte Ausmaß. Wörtlich ergänzte er: „Man sagt mir ja vieles nach, aber ich denke, ich bin nicht so blöd, dass ich eine Woche vor dem Start jedem erzähle, die Website ist so wie Shopping bei Amazon oder Travelocity, wenn dem nicht so ist.“ Leider ist es aber genau so gekommen – wodurch die Blamage noch verschärft wurde.

Hier gibt es durchaus etwas zu lernen – auch für deutsche Webprojekte. Die Unsitte, schlechte Nachrichten vom Chef oder Auftraggeber fernzuhalten, ist leider auch hier weit verbreitet. Seien es Konventionalstrafen, die Sorge um den Arbeitsplatz oder einfach nur die Folgen einer fehlgeleiteten Unternehmenskultur, Gründe für Vertuschung und Beschwichtigung gibt es immer wieder. Wer das nicht will – egal ob als Chef oder Kunde – der muss gewillt sein, einen Rahmen für vertrauensvolle Zusammenarbeit zu schaffen. Wer hingegen meint, in einem (Web-)Projekt könne jedes Detail juristisch geregelt und mit mathematischer Präzision auf Jahre ins Voraus berechnet werden, der irrt.

Zu guter Letzt darf auch die Dynamik nicht unterschätzt werden, mit der sich die Web-Welt entwickelt. Zur Erinnerung: Als die Planungen für Obamacare in 2010 begonnen wurden, erschien im selben Jahr das erste iPad. Den Siegeszug der „Tablets“ ahnte niemand voraus, selbst die Profis beim IT-Giganten Microsoft wurden davon überrascht. Heute würde man das Projekt vielleicht als Obamacare-App starten oder zumindest drastisch für den Mobilbetrieb optimieren. Damals war das so nicht abzusehen.

Mit anderen Worten: wer heute ein großes Hotel baut und sich dafür drei Jahre Zeit nimmt, der kann davon ausgehen, dass die Stadt in der er baut, am Ende der Bauzeit noch da ist. Im Web ist das nicht so.

Fazit

Es ist müßig, mit dem Finger auf andere zu zeigen, das ist nicht unser Ding. Für uns ist entscheidend, dass hier im Großen – für jedermann gut erkennbar – Fehler passiert sind, die auch in Web-Projekten des deutschen Mittelstands geschehen können. Hier gilt es nicht zu spotten, sondern zu lernen.

Einige der Fehler sind spezifisch für IT-Großprojekte, sie wurden höchst amüsant und erstaunlich aktuell bereits 1997 in Tom DeMarcos Roman Der Termin verarbeitet. Andere sind web-spezifisch, kurz angrissen in den Lessons learned.

Wer nicht in die Obamacare-Falle tappen will, der muss sich das passende Umfeld schaffen. Dazu gehören praxistaugliche Verträge, realistische Ziele und die richtigen Leute. Wer sich ausschließlich mit Ja-Sagern und Blendern umgibt, der fällt auf die Nase – und selbst der mächtigste Mann der Welt kann das nicht ändern.

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