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Dieser „Bericht über eine Busreise in das nördliche, russisch besetzte Gebiet Ostpreußens vom 21. bis 29. Mai 1999“ von Frau Friedel Kaul aus Gießen beschreibt, welche Eindrücke und Erfahrungen die Autorin bei Ihrer Reise nach Polen auf den Spuren Ihrer alten Heimat gemacht hat. Dieser Reisebericht ist bereits der zweite seiner Art, {zum vorangegangenen Bericht geht es hier}.
Da ich den Bericht zu schade fand um ihn in staubigen Schubladen vergilben zu lassen, habe ich ihn eingescannt und hier abgelegt. Bei Fragen oder Anmerkungen zu dem Bericht steht die Autorin gerne zur Verfügung.
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Bus: EURO-STAR, Kennz.: EL DK — 62
Fahrer: Fritz Baming, Lingen
Veranstalter:
DNV Tours GmbH., 70797 Kornwestheim
Agenur: Fritz Ehlert 50735 Köln
21. Mai 1999
Reiseantritt, ab Gießen
3.45 h mit dem Pkw der Familie Bärbel & Peter Färber. Sohn Marcus fuhr uns zum Busbahnhof nach Köln. Um 6.30 h startete der Bus in Richtung Posen (900 km) über Bielefeld, Hannover, Berlin-Flughafen Schönefeld. Alle 200 km machte der Fahrer eine kurze Pause für einen kleinen Imbiß an der Autobahn, ca. 1 Std. Pause.
Um 20.30 h waren wir in Posen im Hotel Mercury angekommen. Um 21.00 h gab es ein sehr gutes Abendessen. Nach so einer langen Fahrt hatten wir die Nachtruhe verdient. Ein sehr gutes Hotel, das Mercury!
22. Mai 1999
Um 7.00 h Frühstück. Um 8,00 h Abfahrt über Thorn, Osterode, Allenstein, Heilsberg. Die Landschaft ist landwirtschaftlich geprägt, jedes Feld ist bestellt. Die Dörfer sind eher ärmlich, gegenüber 1993 (siehe Reisebericht Nikolaiken) meint man, hier und dort eine kleine Verbesserung feststellen zu können. Hier wird ein Haus neu gebaut, dort wird ein Haus renoviert. Die Straßen und Alleen sind zwar für den Autoverkehr, der sich jetzt durch das Land wälzt, nicht ideal, aber intakt. Dann die polnisch — russische Grenze: Preußisch-Eylau. Hier erwartete uns die russische Reisebegleiterin, Frau Tatjana Koshewnikowa, die schon die Papiere vorbereitet hatte. Die russische Grenze ist 3fach gesichert, wie seinerzeit die DDR-Grenze. Viel russisches Grenzpersonal ist zu sehen, die Abfertigung ist bürokratisch, die Grenzanlagen verraten: es geht in ein Land mit wirtschaftlichen Problemen. Die Straßen werden nach dem Passieren der Grenze schlag(loch-)artig miserabel. Ständig Geschwindigkeitsbeschränkungen: 80 — 60 — 30: Unsere Reisebegleiterin bemerkte spöttisch, dies sei ein Hinweis der russischen Polizeibehörde über die Größe der Schlaglöcher: 80 cm lang, 60 cm tief und seit 30 Jahren bekannt. Links und rechts der Straße Grenzgebiet: verfallene Häuser mit Storchennestern, barfußlaufende Kinder, die uns freundlich zuwinken.
Es ging weiter nach Insterburg, Königsberg ließen wir links liegen. In Insterburg kamen wir um ca. 19.00 h an. Es gab ein warmes Essen, dann wurden wir mit einem Kleinbus zu unseren Privatquartieren gefahren. Ich wohnte mit Färbers in einem neu gebauten Haus gegenüber der Pension Nadja, Sprindt, was mir sehr angenehm war. Der Neubau war noch nicht fertiggestellt, es fehlt der befestigte Weg von der Straße zum Gebäude und die Außenanlage. Als Eingangstreppe diente ein Geländer mit Holzbohlen. Das Haus war sauber und ordentlich eingerichtet. Die Vermieter, die Familie Nowossalow, sind Neuansiedler, sie kommen aus Kasachstan. Sie hatten dort zahlreiche Kontakte zu Rußlanddeutschen. Dieser Kontakt hatte scheinbar nicht nur auf die Lebensgewohnheiten unserer — im übrigen sehr liebenswürdigen — Vermieter abgefärbt, sie sprachen auch leidlich deutsch, so daß eine Verständigung problemlos war. Die Vermieter haben 2 Kinder, einen Jungen, Sascha, (12 Jahre) und ein Mädchen, Lena, (8 Jahre). Sascha spricht sehr gut deutsch und will in den Sommerferien einen Sprachkurs in Deutschland beginnen. Die Familie hat Bekannte in Süddeutschland.
Zur Stadt selbst: Obwohl im Krieg vieles zerstört wurde, ist das Stadtbild eines deutschen Städtchens nicht zu übersehen. Selbst das Kopfsteinpflaster stammt noch aus der Vorkriegszeit. Einige Gebäude sind mit viel Liebe restauriert, aber die meisten sind heruntergekommen. Es ist viel Desinteresse der hier wohnenden Menschen zu fühlen.
23. Mai 1999 {Pfingstsonntag}
Um 10.00 h, nach dem Frühstück, fuhren wir zum Pferdegestüt nach Georgenburg. Die Pferde sind Trakehner und Hannoveraner. Z.Zt. gibt es dort 300 Pferde. Das älteste Pferd war 27 Jahre alt ! Der Zustand der Tiere: Man wünscht sich nicht, dort ein Pferd zu sein. Die Ställe stehen noch aus alter Zeit vor 1945.
Am Nachmittag, ca. 14.00 h stand das von mir bestellte Taxi für die Fahrt zu meinem Heimatort Ribbenau bereit, und wir fuhren dann über Gumbinnen, wo ich 1935 die Handelsschule besuchte, nach Ribbenau, ca. 80 km eine Tour. Die Fahrt durch die Rominter Heide: Erinnerungen an Wälder mit Wiesen aus blühendem Vergißmeinnicht, Sandwege, Birken, dann: Bickenmühle, die Pissa, der Nassawener See, dann Ribbenau, jetzt Uwarowo: Es war ein erschütterndes Bild: Scheune und Stall sind fort, das Wohnhaus wird von den jetzigen Bewohnern, einer russischen Familie als Schafstall genutzt. Gegenüber steht nur noch das Wohnhaus der ehemaligen Nachbarn und da wohnen sie mit 2 Töchtern (ca. 14 — 15 Jahre alt) drin. Der Mann arbeitet bei der russischen Forstverwaltung. Er sagte, daß er im November 1998 die letzte Lohnzahlung erhalten habe. Wir seien die ersten Touristen, die hierher kamen. Die Häuser sind sehr verfallen. Die alte Schmiede an der Straße steht noch. Darauf: ein Storchennest. Gleich hinter dem Ort beginnt das Grenzgebiet zu Polen, das nur mit Sondergenehmigung betreten werden darf. Wir haben vor der Abfahrt dem russ. Ehepaar einige Rubel geschenkt, worüber sie sich sehr freuten. Die Leute sind sehr arm, sie müssen von dem leben, was sie von ihrem Acker erwirtschaften. Warum geht es auf der Welt so ungerecht zu?
Anschließend fuhren wir zum Friedhof, wo mein Vater am 7. November 1935 beerdigt wurde. Der Friedhof, der jetzt sehr verwildert ist, besteht noch. Zwischen den Gräben wachsen Bäume, Büsche und Blumen. Es war sehr ruhig und friedlich dort, wie in einem verwunschenen Wald. Ich bin mit Frau Färber nur bis zum Eingang gekommen. Herr Färber und unser Fahrer und Dolmetscher hatten sich durch das Gebüsch durchgearbeitet. Sie fanden nur noch ein paar alte Gräber vor. Ein Grab hatte ein Eisengitter, wahrscheinlich das Grab meiner Mutters Schwester Minna, die mit 21 Jahren im Krieg 1914 von den Russen im Zug erschossen wurde. Das Grab von meinem Vater haben wir nicht gefunden. Ich habe meinen guten Willen gezeigt und war wenigstens bis zum Friedhofstor.
Dann verabschiedeten wir uns und fuhren wieder nach Insterburg zurück, Kosten: 4 Stunden a. DM 15,00 = DM 60,00. Über Trinkgeld haben sich die Fahrer sehr gefreut.
24. Mai 1999 (Pfingstmontag)
Nach dem Frühstück fuhren wir mit dem großen Bus über Gumbinnen nach Gr.-Rominten. Dort besuchten wir einen Holzbearbeitungs-Betrieb, den ein deutscher Tierarzt — jetzt Rentner — dort gegründet hatte. Der Tierarzt stammt, wie er mir sagte, aus der Nähe von Ulm. Einige junge Leute haben hier einen Arbeitsplatz gefunden. Aber die wirtschaftliche Lage ist, wie überall im Lande, nicht sehr gut. Der Betrieb ist, wie mir der Firmengründer sagte, „von meiner Rente abhängig“. Ich habe einen Leiterwagen mit Pferd gekauft. Preis: DM 30,00, Handarbeit.
25. Mai 1999
Reiseziel dieses Tages: Tilsit und Mernel. Von der Maas bis an die Memel: jetzt nur ferne Gewässer. Tilsit selbst eine Stadt mit eher rustikalem Charme. Unsere Reisebegleiterin sagte uns, daß sich in der Stadt viele Waisenhäuser befinden. Unverkennbar: sofort nach Ausstieg aus dem Bus waren wir von einem Dutzend Kinder umringt, die uns um Süßigkeiten und Kleingeld anbettelten. Es schnürte mir das Herz zusammen: die Kinder unserer „Sieger“, die uns, in einem „eroberten Gebiet“ demütig um etwas Essen bitten. So viel Armut vor unserer eigenen „Haustüre“. Wieviel Hoffnungslosigkeit und Wissen der Kinder darum, auf der „falschen Seite“ der Welt leben zu müssen. Dann die Memelbrücke: Grenze zu Litauen. Ich hatte vor, mit Färbers zu Fuß über die Memelbrücke gehen, unser Reiseführer riet uns jedoch dringend davon ab. Es würde zu lange dauern, es war auch nur eine halbe Stunde Aufenthalt zum Mittagessen geplant.
Die Rückreise ging über Ragnit, Haselberg, Ebenrode, Gumbinnen. Eine Fahrt durch ein Land, das scheinbar nur aus Wiesen und Wäldern besteht. Kaum irgendwo eine landschaftlich genutzte Fläche, Die „Kornkammer Ostpreußen“ gibt es nicht mehr. Erklärung unserer Reiseleiterin; „es fehlt uns an Geräten, an Geld und auch an Arbeitswillen. Der Wodka ist dafür billig“.
26. Mai 1999
Nach 4 Übernachtungen verabschiedeten wir uns von unseren netten Quartiersleuten, Tanja, Walerij und den Kindern Sascha und Lena. Von hier aus fuhren wir nach Rauschen-Düne und dann nach Königsberg in das Hotel Kaliningrad. Rauschen-Düne kenne ich noch von vor 50 Jahren, wo ich am Sonntag mit der Seenlandbahn von Königsberg zum Schwimmen fuhr. Es waren ca. 30 km. In Rauschen sind noch viele Gebäude aus der Vorkriegszeit erhalten. Bis vor einigen Jahren wurde noch vieles — teilweise sogar recht liebevoll — instandgesetzt und restauriert. Jetzt zeigen sich deutlich Spuren von Verfall. In dem Restaurant „Seestern“ habe ich zusammen mit Färbers sehr gut zu Mittag essen können. Die Strandpromerade von eher ärmlicher Eleganz. Vieles erinnert an die ehemalige DDR: trotz strahlendem Sonnenschein wirkt alles bedrückend und wie mit einem Grauschleier überzogen, Nur die Ostsee ist so schön und weit, wie ich sie noch in Erinnerung hatte.
Man sieht viele unfertige, stillgelegte Neubauten. Kaum eine Baustelle, an der gearbeitet wird. Lange Fahrten unter dem Blätterdach ostpreußischer Alleen. Weite Ausblicke in die ostpreußische Landschaft, ein ferner Horizont, klar, streng und schön.
Dann Königsberg: Besuch des Bernsteinmuseums. Leider sind alle Erklärungen in russischer Schrift, so daß man betrachten und sinnieren kann. Leider stand die Besichtigung auch noch unter Zeitdruck. Schade.
27. Mai 1999
Um 8.00 h fuhren wir zur Kurischen Nehrung, Rossitten, zur Vogelwarte. So ein schönes Fleckchen Erde gibt’s kaum wieder! Bäume, zwischen denen das Wasser des Haffs hindurch blinzelt, der weite Himmel, der Sandstrand, der sich in der Ferne verliert, das Heranrauschen der Ostseewellen, An der schmalsten Stelle der Nehrung sind es nur 500 m zwischen Haff und Ostsee. Aussichten von der Düne: Illusion einer Wüstenlandschaft mit Meeresblick. Dann Museum Rossitten: Man erinnert sich der deutschen Vergangenheit in Ostpreußen, Das war nicht immer so! Überall: der Eindruck einer (fast) unberührten Landschaft, Wiesen und Blumen, dazu die wunderschönen Vögel und Störche und wieder Störche. Aber man spürt die Bedrückung und Verdrossenheit der Menschen, die hier leben müssen. Überall an Park- und Rastplätzen: Kinder und alte Frauen, die Andenken verkaufen. Man ist manchmal etwas beschämt wegen der Habseligkeiten, die zum Verkauf angeboten werden.
Um ca. 20.00 h habe ich mir ein Taxi bestellt und fuhr mit Färbers durch die Stadt und habe die Häuser gesucht, wo ich früher gewohnt habe: Nichts mehr da! Man merkt schmerzhaft, wie die Bilder der Erinnerung nicht mit den Bildern der Gegenwart übereinstimmen. Statt Gebäude: entweder Grünflächen oder Baulücken. Der Dom ist noch vorhanden, er wird restauriert. Die Altstadt, das Schloß: nichts mehr zu erkennen, ein völlig neuer Stadtteil. Die vorhandenen Gebäude sind häßliche und monotone sozialistische Plattenbauwerke, Noch nicht fertiggestellt und schon Bauruine.
28. Mai 1999
Abreise von Königsberg nach Schneidemühl, wo wir nochmal in einem sehr guten Hotel übernachteten. Am Abend noch ein kleiner Spaziergang an der Schwarza. Ein frühsommerlicher Abend, die Stadt selbst: gepflegt, die Häuser ordentlich. Hier war bis 1939 die Reichsgrenze zu Polen. Nichts erinnert mehr an diese Grenze. Sogar unserem alten Reiseleiter Ehlert war dies nicht mehr bekannt. Vielleicht ist dies auch gut so.
29. Mai 1999
7.30 h Rückreise von Schneidemühl nach Köln. Die Rückfahrt durch Westdeutschland: Die Abendsonne beleuchtete die weit und harmonisch geschwungenen Hügel des Weserberglandes und die Ziegeldächer der Dörfer leuchteten in warmen Rottönen. Eine gepflegte Landschaft mit bestellten Feldern und sorgfältig gemähten Wiesen breitete sich meinen Blicken aus und es schien, als sei dies hier im Vergleich mit Kaliningrad die wirkliche Idylle. Aber auch hier gibt es diese nicht.
In Köln wurden wir wieder von Marcus Färber abgeholt. Um 1.00 h nachts war die Reise für mich beendet und dies war eine der längsten Reisen meines Lebens.
Familie Färber danke ich für die Hilfe, Alleine hätte ich diese große Reise nicht mehr machen können.
Gießen, den 31. August 1999
Friedel Kaul
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