Als Bürger von Deutschland weiß ich, dass unser Land allerhand Probleme hat. Jeden Tag überschütten mich Google, Twitter und die Tagesschau mit schlechten Nachrichten. Zum Teil fühle ich mich ohnmächtig, manches ärgert mich, ein Gutteil lässt mich – mittlerweile – kalt. Bis hierhin wird mir wohl jeder folgen.
Konstruktiv nach vorne
Doch zu was ist die schlechte Nachricht – abgesehen von der Einschaltquote – überhaupt noch nütze? Vor 20 Jahren, als alle halbe Jahr ein „echter“ Skandal von den Medien aufgeklärt wurde, trug investigativer Journalismus zum Wohle des Ganzen noch etwas bei. Heute jedoch gibt’s jeden Tag Skandale, Aufreger und Unfassbares – mit dem Effekt, dass ich zunehmend abstumpfe. Aus diesem Grund möchte ich heute keine neuen Verschwörungen aufdecken oder Politiker schelten. Stattdessen will ich meine Beobachtungen aufführen und darlegen, wie wir zu einer „nützlicheren“ Sichtweise auf das Elend um uns herum kommen können.
Darum schreibe ich
Kürzlich hatte ich das Vergnügen, etwas 40 Bewerbungsmappen junger Menschen lesen zu dürfen. Die meisten waren zwischen 16 und 20 Jahre alt, wenige älter, es ging um eine Ausbildungsstelle für einen Bürokaufmenschen. Ein Gutteil der Unterlagen kam einen Offenbarungseid gleich – nicht für die jungen Menschen, sondern für uns als Gesellschaft. Es war für mich mit Händen greifbar, dass ein Teil dieser jungen Menschen am falschen Platz im Leben steht, das sie in ein System gepresst werden, dass sie einerseits nicht „für voll“ nimmt, andererseits aber auch enorme Ängste schürt.
Beobachtung und Diagnose
Als Gesellschaft haben wir einige Sichtweisen als „normal“ akzeptiert. Das ist grundsätzlich gut, denn einen Gemeinschaft braucht einen Wertekonsens. Der Konsens birgt aber auch die Gefahr, dass wir manchmal „groben Unfug“ als normal hinnehmen. So etwas kommt vor – und wenn es passiert, muss eine Minderheit Jahre und Jahrzehnte auf den Rest einreden, bis sich etwas ändert. Alternativ könnte auch ein gewaltsamer Umschwung den Wandel bewirken, aber an diesem Punkt sehe ich uns als Gesellschaft noch nicht.
Wo also sind Denkfehler, an denen unsere Gesellschaft krankt?
- Schule = Bildung = berufliche Zukunft = soziale Sicherung
Wir setzen als Gesellschaft darauf, dass die Schulen für akademische Bildung sorgen und sich daraus dann die „hochqualifizierten Facharbeiter“ entwickeln, die dieses Land voranbringen sollen. - Der Staat sorgt für die Bürger
Meiner Beobachtung nach haben wir mehrheitlich akzeptiert, dass der „Staat“ eine Art übergeordnete Regulierungs- und Fürsorgebehörde ist, die uns Bürger schwere Entscheidungen abnehmen und vor den Stürmen des Lebens bewahren soll. - „Man“ kann nichts ändern
Es gibt die EU, Bund, Länder und die Gemeinden, tausende von Gesetze und Verordnungen und dazu noch zahllose Lobbyisten, Extremisten, Verblendete und Querulanten. In diesem Umfeld sind keine echten Änderungen mehr möglich.
Ich gehe davon aus, dass im Geiste so mancher Leser diesen Beobachtungen zustimmen wird. Und weil ich das glaube, schreibe ich weiter – denn ich will diese Denke überwinden.
Der Irrtum mit Schule und Bildung
So machen wir es heute: Bildung in Deutschland bedeutet „akademische Bildung“. Wir trichtern jahrelang unserem Nachwuchs etwas ein. Faktenwissen ist der Standard, Arbeitsmethoden und logisches Denken kommen im Optimalfall hinzu. Das Ganze garnieren wir mit Schulnoten – und fertig ist das Bildungssystem.
Wo ist der Irrtum? Meiner Meinung nach gibt es drei herbe Fehler in diesem System:
- Bildung = akademische Bildung
Wir blenden völlig aus, dass neben der akademischen Bildung es auch die Bildung des Charakters gibt. Selbstbewusstsein, ein Verständnis für richtig und falsch, Respekt, Erziehung im besten Sinne, diese Dinge bleiben auf der Strecke. Nach unserem Verständnis sollte diese Bildung durch die Eltern erbracht werden, was zunehmend schwieriger wird (wer Arbeit hat, ist damit stark belastet. Wer keine Arbeit hat, hat andere Probleme als die Charakterbildung der Kinder). Was bleibt? Die Schule könnte diese Aufgabe übernehmen, allerdings sind die „klassischen“ Lehrern und die derzeitigen Lehrpläne auf diese Aufgabe nicht vorbereitet. Dies ist kein Vorwurf an die Lehrer sondern ein Hinweis darauf, dass hier das System eine unvermeidliche Begrenzung hat. Solange wir unsere Abiturienten direkt nach der Schule zurück an die Uni schicken, wo sie dann lernen sollen zu lehren, dürfen wir nicht erwarten, dass diese Leute mehr als akademische Bildung leisten können. Allein schon der Mangel an Lebenserfahrung außerhalb des behüteten Umfelds von Schule und Uni macht den Anspruch auf Charakterbildung zunichte. - Alle sind gleich, also machen alle das Gleiche
Wir scheren unsere Jugend über einen Kamm – und wer nicht ins Raster passt, wird passend gemacht. Wer in Deutschland Abitur machen will, muss 12 bis 13 Jahre zur Schule, muss mehrheitlich Frontalunterricht über sich ergehen lassen, fragwürdige Selektionsmechanismen überwinden und fast jedes Detail über die Weimarer Republik lernen. Individualität ist insofern möglich, als das man irgendwann Sport oder Kunst abwählen darf oder einen zusätzlichen Informatik-Kurs am Nachmittag belegt. Im Prinzip muss jeder diesen Weg durchstehen, unabhängig davon, ob er Kernphysiker oder Showmaster werden will. Über die Jahre hinweg bringt dieser Druck Konsequenzen mit sich, die Ergebnis können wir heute (Stand: 2009) messen. Fakt ist: heute bekommen 600.000 (!) Jugendliche im Jahr das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (AHDS) diagnostiziert. Ritalin&Co boomen – glaubt man der zuständigen Bundesbehörde lag der deutschlandweite Verbrauch des Wirkstoffs Methylphenidate 1993 bei nur 34 kg/Jahr, in 2009 waren es stolze 1.735kg. Über die Langzeitwirkung der Beruhigungspillen streiten sich die Gelehrten, die kurzfristigen Nebenwirkungen wie bspw. Reizbarkeit oder Wachstumsstörungen sind belegt und werden von Eltern und Ärzen (notgedrungen) akzeptiert. - Die Kinder sind zu lange Kinder
Das wir – je nach Schulform – unseren Nachwuchs für 9 bis 13 Jahre in der Schule lassen, folgt einer völlig logischen Überlegung. Der Gedanke dahinter ist, dass es nunmal so lange dauert, sämtliche Details der Weimarer Republik bis hin zu komplexen Brüchen und einfachen Dreisätzen zu lehren. Solange die Schule andauert, erleben die Kinder und Jugendlichen einen amtlichen Vorbeter (=Lehrer), der sich nach Kräften abmüht, ihnen Bildung ins Hirn zu injizieren. Die Schüler wissen, dass dieser Lehrermensch das tun muss – und sie wissen auch, dass sie am Unterricht teilnehmen sollten. Warum sie das sollten, was es ihnen bringt und warum sie dabei kooperativ sein sollten, ist indes längst nicht jedem klar. Mir übrigens auch nicht, denn letztlich blenden wir bei diesem System die physische und psychische Entwicklung der jungen Menschen völlig aus. Besonders in der Pubertät ist es völlig offensichtlich, dass die Menschen sich in unterschiedlichem Tempo entwickeln. Jeder kann das Entwicklungstempo der Kids „mit dem Auge“ erkennen – und es ist aus meiner Sicht auch völlig offensichtlich, dass mit dem unterschiedlichen Tempo auch unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten einhergehen, doch was machen wir als Gesellschaft daraus? Nichts! Wir ignorieren die Bedürfnisse der jungen Leute, weil wir sie nicht mit dem Vereinbaren können, was wir unser einen geregelten Schulbildung verstehen.